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Ich hatte vorgehabt, mit meiner Freundin zwei erholsame Wochen in einer abgelegenen Hütte, welche wir zu einem Spottpreis mieten konnten, in Quebec, Kanada zu verbringen. Doch einmal mehr kam alles ganz anders. Die Nachricht vom Tod meines Grossvaters kam überraschend und traf mich sehr. Sofort wollte ich wieder in die Schweiz zurück und mich um die Beerdigung kümmern. Also packte ich meine Sachen und fuhr Hals über Kopf los. Meine Freundin war natürlich überhaupt nicht begeistert, dass ich schon nach vier Tagen wieder abreisen wollte, aber letztendlich hatte sie doch Verständnis. Sie heisst übrigens Natascha. Sie ist eine Liebe, auch wenn wir immer wieder einmal aneinander geraten, weil sie irgendwie anders tickt. Aber genau das ist es, was die Beziehung interessant macht. Da fällt mir gerade ein, ich habe mich ja selbst noch nicht vorgestellt. Ich bin Aaron, letzte Woche gerade 34 Jahre alt geworden, sportlich, aufgestellt, in einem guten sozialen Umfeld lebend. Eigentlich eine ziemlich runde Persönlichkeit ohne Ecken und Kanten. Fast schon ein bisschen langweilig, wie Natascha jetzt sagen würde. Einzig meine Hartnäckigkeit, meinen unermüdlichen Drang, Dinge zu lösen, zu finden, zu erreichen, zu erfahren, die ich mir in den Kopf gesetzt habe, kann ich als meine Kante bezeichnen, die aus meiner fast schon zirkelkreisrunden Persönlichkeit heraussticht. Manch einer aus meinem Umfeld würde sagen, der Aaron kann einem ganz schön auf den Senkel gehen, wenn er wieder einmal bohrt und locht, bis er seine Antworten hat. Aber so bin ich nun einmal. Doch genug geplaudert, ich sollte mich besser auf die Strasse konzentrieren, bevor es noch zu einem Unfall kommt. Obwohl auf dieser wunderschönen abgelegenen Strasse so gut wie kein Verkehr auszumachen ist. Nur Asphalt und Nadelwald soweit das Auge reicht. Die Chance, dass ein Bär meine Strasse kreuzt, erscheint mir wahrlich höher, als dass ich in der nächsten Stunde ein anderes Fahrzeug zu Gesicht bekomme. Eine richtig schöne Ausfahrt, wäre der Anlass meiner Reise nicht so traurig. Die Sonnenstrahlen blitzen durch die Baumkronen und fallen auf die Strasse. Was wohl Natascha gerade anstellt? Wahrscheinlich ist sie gerade beim Frühstück. Ich verüble es ihr nicht, dass sie sich entschlossen hat, in der Hütte zu bleiben und erst, wie ursprünglich geplant, in die Schweiz zurückzureisen. Auch wenn ich sie gerne an meiner Seite gehabt hätte. Aber wer reisst sich schon darum, an einer Beerdigung teilzunehmen und schon gar nicht von jemandem, zu dem man keinen direkten Bezug hatte. Doch meine einzige Sorge im Moment ist, möglichst schnell den am nächsten gelegenen Flughafen zu erreichen und auf einen freien Platz in einer Maschine zu hoffen.

Ein lautes Klopfen zieht Aarons Aufmerksamkeit auf sich. Neben dem Tacho blinkt eine rote Warnanzeige auf. Verdammt, was soll das jetzt? Eine Autopanne hat mir gerade noch gefehlt.  Hoffentlich erreiche ich noch die nächste Ortschaft. Doch Aarons Hoffnungen schwinden, als das Fahrzeug immer langsamer und langsamer wird, bis es schliesslich zum Stillstand kommt. Super, mitten im Nirgendwo und natürlich kein Empfang mit meinem Mobiltelefon! Aaron öffnet die Motorhaube, aus der mittlerweile dunkler Rauch qualmt. Gleich lässt er diese wieder fallen und tritt hustend auf die Seite. Keuch, hust, keuch, da lässt sich wohl nichts mehr machen. Ich wusste doch, ich hätte beim Mietauto nicht sparen sollen. Der Händler wollte mir noch die nächst teurere Klasse schmackhaft machen, und ich war wieder einmal zu knausrig, um ein paar Dollars mehr auszugeben. Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu warten…..

 

30 Minuten später. Mittlerweile hat der Qualm nachgelassen und Aaron riskiert erneut einen Blick unter die Motorhaube. Tja, einen Automechaniker an meiner Seite zu haben, wäre jetzt von Vorteil. Ich kann da genau gar nichts erkennen. Aaron öffnet den Kofferraum und durchsucht ihn nach etwas Brauchbarem. Er greift nach dem Warndreieck, hält es in der rechten Hand und sieht es einige Sekunden lang an. Dann wirft er es zurück in den Kofferraum. Ich glaube, darauf kann ich hier in der Einöde verzichten. Aaron setzt sich auf die Motorhaube und fängt an, den Geräuschen der Natur zu lauschen. Er ist gerade dabei, in seine Gedankenwelt abzuschweifen, als er hinter sich eine Tür zuschlagen hört. Wie ertappt dreht er sich um und sieht einen alten, rostigen Pick-up hinter seinem Mietwagen stehen. Daneben einen älteren Mann mit einem langen, weissen Bart und einer grünen Latzhose.

 

„Brauchen Sie Hilfe?“, hört Aaron ihn fragen.

 

„Gerne, das wäre sehr freundlich. Ich habe eine Panne. Hätten Sie wohl ein Abschleppseil?“

 

Ohne ein Wort dreht sich der alte Mann um, greift über die Seitenwand auf die Ladefläche seines Pick-ups und holt ein Abschleppseil hervor. Er streckt es Aaron entgegen. Aaron geht ein paar Schritte auf den Mann zu und nimmt das Abschleppseil an sich. Mit ausgestreckter Hand entgegnet ihm Aaron:

 

„Ich bin übrigens Aaron.“

 

Der alte Mann schüttelt kräftig seine Hand.

 

„George“, stellt er sich vor.

 

„Freut mich, George. Ich bin heilfroh, dass ich Sie getroffen habe. Ich dachte schon, ich müsste hier stundenlang warten, bis Hilfe kommt.“

 

„Kein Problem.“

 

George steigt in seinen Pick-up und fährt vor den Mietwagen. Aaron befestigt das Abschleppseil, nimmt hinter dem Fahrersitz Platz und signalisiert mit dem Daumen nach oben seine Startbereitschaft. George richtet seinen Rückspiegel. In diesem kann Aaron nur den grimmigen Blick und die grossen, buschigen Augenbrauen erkennen, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. Die Fahrertür des Pick-ups öffnet sich und George steigt aus. Langsamen Schrittes kommt er auf Aaron zu. Als er auf seiner Höhe ist, fasst er in seine rechte Hosentasche und holt ein altes, dreckiges Stofftaschentuch hervor. Damit wischt er sich die Schweisstropfen von der Stirn.

 

„Ich fahre Sie bis zur nächsten Tankstelle, das ist etwa eine Stunde von hier.“

 

„Super, das reicht mir. Nochmals vielen Dank.“

 

George quittiert mit einem leichten Nicken und steigt wieder in seinen Pick-up.

Ein seltsamer Typ, dieser George. Eben ein richtiger Einsiedler.

 

George startet den Motor und die Fahrt geht los.

 

Etwa eine Stunde später kommen sie an der besagten Tankstelle an. Alte Zapfsäulen, wie man sie eigentlich nur aus Filmen kennt, ragen aus dem Boden und passen zum Rest der Tankstelle, die inmitten einer Waldlichtung steht. George löst das Abschleppseil und zieht von dannen, ohne sich gross zu verabschieden. Aaron will ihm noch 50 Dollars für die Hilfe geben, doch George winkt ab und steigt ein.

 

„Danke George!“, ruft ihm Aaron hinterher. Dann heult der Motor des Pick-ups auf, und die anfahrenden Räder hinterlassen eine dicke Staubwolke. Aaron begibt sich zur Tankstelle und tritt ein. Ein Bimmeln ertönt, ausgelöst durch das Öffnen der Tür. Der Tankwart hinter der Kasse, der gerade in eine Zeitung vertieft war, wird durch die Ankündigung eines Kunden aus seiner Konzentration gerissen. Er blickt über seinen Brillenrand noch oben, ohne dabei den Kopf zu heben. Fast schon etwas genervt, vom Zeitunglesen unterbrochen worden zu sein, murmelt der Tankwart: „Sie wünschen?“

 

Aaron erwidert: „Ich hatte eine Panne und müsste schnell telefonieren.“

 

„Das Münztelefon steht draussen, rechts vom Eingang“, setzt ihn der Tankwart in Kenntnis.

 

Aaron wechselt etwas Kleingeld und geht wieder nach draussen. Auf dem Weg zum Münztelefon fällt ihm ein Indianer auf, welcher neben einem Getränkeautomaten steht. Das muss ein Indianer aus einem der umliegenden Reservate sein.

Wie spät es wohl ist? Meinem Hunger nach müsste es bereits Mittagszeit sein.

 

Aaron ruft dem Indianer zu: „Verzeihen Sie Sir, was haben Sie für Zeit?“

 

Der Indianer sieht Aaron tief in die Augen, oder sieht er durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da? Er wirkt etwas apathisch und macht keine Anstalten zu einer schnellen Antwort. Als würde er Aarons Sprache nicht sprechen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit antwortet  er mit einer trockenen, emotionslosen Stimme: „Es ist JETZT.“

 

Aaron schüttelt ungläubig den Kopf und geht weiter zum Münztelefon. JETZT, es ist JETZT. Ha, ha, sehr witzig diese Indianer. Während Aaron das Kleingeld in seiner Hand sortiert, dreht er sich noch einmal um, um nach dem Indianer zu sehen. Wo ist er denn hin? Er war doch eben noch da! Verrückt, diese Indianer, einfach verrückt.

Aaron wirft etwas Kleingeld in den dafür vorgesehenen Schlitz und wählt die Nummer der Autovermietung. Nach einem kurzen Gespräch ist alles geregelt. Ein Abschleppwagen ist unterwegs zu Aaron, und ein Ersatzauto wird zu Natascha gebracht, damit auch sie in der abgelegenen Hütte nicht gänzlich verloren ist.

Erleichtert, dass dies so reibungslos und unkompliziert geklappt hat, begibt sich Aaron zum Getränkeautomaten und lässt sich einen Softdrink heraus. Hmmm, was liegt denn da am Boden? Eine Halskette. Sie scheint nicht besonders wertvoll zu sein. Wahrscheinlich wird sie dem Indianer gehören. Aaron nimmt die Halskette an sich und setzt sich auf die Sitzbank, um auf den Abschleppwagen zu warten. Vielleicht kommt der Indianer noch einmal, dann kann ich ihm die Kette geben, ansonsten lasse ich sie beim Tankwart. Die Minuten vergehen wie Stunden und Aaron ist dabei, sich das dritte Süssgetränk aus dem Automaten zu lassen. Jetzt ist aber genug, sonst wird mir noch übel von dem vielen Zucker. Mehr aus Langeweile, denn ernsthaften Interessens, begutachtet Aaron die Halskette etwas genauer. Längliche, blaue Glieder und dazwischen silberfarbene Kugeln. Ja, ich bin mir recht sicher, dass dies die Halskette des Indianers ist. Wer sonst trägt so etwas? Ich frage einmal den Tankwart. Aaron begibt sich zurück in das Tankstellengeschäft.

 

„Verzeihen Sie, ich habe draussen neben dem Getränkeautomaten diese Halskette gefunden. Ich glaube, sie gehört dem Indianer, der gerade eben noch vor ihrer Tankstelle stand.“

 

„Indianer?“, entgegnet ihm der Tankwart mit ungläubigem Blick. „Ich arbeite seit 20 Jahren an dieser Tankstelle und ich habe hier noch nie einen Indianer gesehen.“

 

„Zeigen Sie mal her!“, bittet ihn der Tankwart, ihm die Halskette hinüberzureichen.

 

Nach kurzer Betrachtung bestätigt der Tankwart, was Aaron schon vermutete.

 

„Ja, das ist eindeutig eine indianische Halskette.“

 

„Können Sie die Kette aufbewahren und dem Indianer wiedergeben, falls er noch einmal kommt?“, will Aaron vom Tankwart wissen.

 

„Nein“, antwortet ihm der Tankwart.

 

„Wie nein?“, erwidert Aaron etwas irritiert.

 

„Sehen Sie“, holt der Tankwart etwas aus, „im indianischen Glauben gibt es so etwas wie Verlust nicht. Wenn ein Gegenstand verschwindet, sei es, weil er verloren oder gestohlen wurde, war es an der Zeit dafür, dass dieser seinen Besitzer wechselt. Der Gegenstand hat seine Dienste verrichtet. Jemand anderer braucht ihn nun dringender.“

 

„Behalten Sie die Kette“, fügt der Tankwart hinzu.

 

„Behalten?“, antwortet Aaron.

 

„Ring, Ring“, das Telefon neben der Kasse läutet. Der Tankwart nimmt den Hörer ab und wendet sich noch einmal an Aaron, bevor er sich dem Anrufer widmet.

 

„Betrachten Sie es als ein Geschenk.“

 

„Ein Geschenk, aber ich kann doch nicht…“, antwortet ihm Aaron achselzuckend.

 

Doch der Tankwart hört ihm schon nicht mehr zu und widmet seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Anrufer, der dem Gespräch nach ein alter Bekannter ist.  

 

„Tüüüüüt, tüüüüüt“, hupt es von draussen. Aaron dreht sich um und sieht den Abschleppwagen vor der Tankstelle stehen. Nochmal wendet er sich dem Tankwart zu, der jedoch keine Anstalten macht, sein Telefonat zu unterbrechen. Schliesslich verlässt Aaron die Tankstelle.

 

Der Chauffeur des Abschleppwagens ist so freundlich und fährt einen kleinen Umweg, um Aaron am Flughafen abzuladen, wo er doch prompt ein Ticket in die Schweiz erhält. Somit wäre fürs Erste alles geregelt...


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